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40 Jahre, 40 Bücher und 1 Handstand

2013-03-20 09.31.29

Mein Bruder schenkt mir jedes Jahr zu Weihnachten Bücher, die mein Freund Marc von der Münchner Lieblingsbuchhandlung Lehmkuhl auswählt. Und jedes Jahr denke ich wieder, woher weiß der so genau, wer ich bin?

Gerade bin ich vierzig geworden, und diesmal hat ganz Lehmkuhl gesucht. Das Ergebnis hat mich umgehauen: Vor Ihnen steht ein Porträt in 40 Büchern. Ein bisschen so sehe ich schon aus, finden Sie nicht?

Inzwischen bin ich überzeugt, dass die Lehmcoolen nachts in meine Wohnung einsteigen und mein Bücherregal fotografieren. Wie sonst ist es möglich, dass sie bei vierzig Büchern, die ins Schwarze treffen, nur sechs Bücher ausgesucht haben, die ich schon kenne, und alle mochte?

Björn Bickers, Kathrin Rögglas und Elfriede Jelinkes Bücher standen sowieso auf meiner Liste, über Marie-Louise Scherer habe ich gerade ein tolles Porträt von Katharina Teutsch gelesen, über die Vergessen-Sie-Shades-of-Grey-Schmonzette „Versuchung“ habe ich sehr gelacht, Jonas Lüscher ist mir gerade vom Tucholsky-Buchhändler als neues Lieblingsbuch empfohlen worden, Über die Liebe lese ich sowieso am liebsten, auch wenn es ihre kapitalistische Formatierung oder eine desaströse Verbindung zu einem 15 Jahre jüngeren Mann ist – und so geht es in einem fort. Im Stapel liegen Bücher über Kokain, Brüste, Versteckspiele und Heimschwimmen. Wie soll man an einem solchen Geburtstag nicht glücklich sein?

Als Dank habe ich den ersten freistehenden Handstand meines Lebens gemacht.

—19.03.2013

Das ist das Haus vom Nikolaus – Düsseldorfer Performances

Hartmut Fetter: Tüten und Noemi Weber: Das Haus
Hartmut Fetter: Tüten und Noemi Weber: Das Haus

Seit einiger Zeit unterrichte ich die Klasse Katharina Grosse an der Düsseldorfer Akademie in Textarbeit. Wir lesen inspirativ Flusser, Kamper, Deleuze, Didi-Huberman und die Anderen. Wir schauen uns die neuesten Arbeiten an, die im Atelier entstehen, und setzen sie zu den Texten in Verbindung. Das ist Synapsen-Rock vom Feinsten.

Julia Gruner - Bodenplatten
Julia Gruner – Bodenplatten

Beim letzten Rundgang hat die Klasse zusammen mit den großartigen Performance-Künstlern Prinz Gholam Performances erarbeitet. Ich war nur eineinhalb Tage dabei, habe aber eine Woche gebraucht, bis ich  Stewardessen, Kassiererinnen und Kellner nicht mehr des Rollenspiels verdächtigt habe. Ich musste ständig an Handkes Stück „Der Tag, an dem sie nichts voneinander wussten“ denken und habe das erste Mal in meinem Leben bewusst geduscht.

Julius Linnenbrink - Kreide
Julius Linnenbrink – Kreide

Jeder Dreh an jedem Knauf ein Handgriff mit Metaebene. Jedes Stehen an jeder noch so zugigen Haltestelle mit der Frage versehen, ob wir nicht alle unser Sein performen. Irgendwann war ich dann zu lange in einer Bar, und die Welt als Performance hatte sich wieder ausgerauscht, meine Handgriffe wurden wieder fahrig, und das Wasser prasselte prä-rundgang-mäßig unbehelligt hinter meinem Rücken auf den Boden.

Domingo Chavez: Porduktion. Anna Spät: Haare
Domingo Chavez: Porduktion. Anna Spät: Haare

Schön war die Szene, als ein älteres Ehepaar vor drei Studierenden (Domingo, Aeran, Noemi) stand, die rhytmisch und versunken Zettel an Holzplanken tackerten, und sich ratlos fragte: „Sollte hier jetzt nicht eine Performance stattfinden?“

Fridolin und Paula - Kohlenseil
Fridolin und Paula – Kohlenseil

Alle Besucher, die mit dem „Ikea-Blick“ in die Räume kamen, entgleisten: „Die Klasse Grosse stellt nichts aus.“ Die meisten anderen waren begeistert. Und noch ein Gerücht ging in den Gängen rum: „Habt Ihr gesehen, die Grosse hat einen silbernen Anzug an? Die performt sicher gleich…“

Liza Dieckwisch und Aeran Kim: Jetzt
Liza Dieckwisch und Aeran Kim: Jetzt

Was mich so begeisterte, war, dass jede der Performances es geschafft hat, meine Wahrnehmung so zu schärfen wie schon lange nicht mehr. Für Schritttempi und Zeitwahrnehmung, für Bodenbeschaffenheiten, die Dynamiken des An-einem-Seil-Ziehens, Rückenansichten in der Malereigeschichte, über Intimsphären und Haareziehen und darüber, dass man manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht.

Marco Biermann: Traummaschine
Marco Biermann: Traummaschine

Manche haben sich mehr riskiert, andere weniger, manche haben die Spannung gehalten, andere haben genau das nicht getan. Aber alle haben eine Ausdrucksform gefunden, die nicht übers Sofa passt, aber ihren eigenen Arbeiten einen ganz neuen Dreh gaben.

Paul Czerlitzki: Körper
Paul Czerlitzki: Körper

Zum Schluß gab’s bunte Nudeln.

HannaStragholz, Anica Kehr, Lukas Glinkowski: Nudel
HannaStragholz, Anica Kehr, Lukas Glinkowski: Nudel

Und einen Blick mit Caspar David Friedrich auf die Wand, an der die Kunst nicht mehr hängt.

Josef Zky: Wand
Josef Zky: Wand

Und eine wunderbare Zeitung gab’s auch noch. Bravo! Auch an die, die hier nicht verewigt sind.

Und als Nachtrag eine von Lea Peters‘ Performances mit der ganzen Klasse und eine weitere Rückenansicht, diesmal mit Hut:

Lea Peters
Lea Peters
—11.03.2013

Gegen den Steinzeit-Rock!

hufheels
Hufheels von Iris Schieferstein



Hier mein Fernschreiber-Essay, der am 7. Februar im Zündfunk auf Bayern 2 lief:

Die Steinzeit, Darwin und das Ehrenkreuz der deutschen Mutter – das ist die Hintergrundmusik, die den Refrain im deutschen Familienlied begleitet. Dass die Rollenverteilung biologisch begründet und seit der Steinzeit evolutionär erfolgreich überdauert, ist falsch; dass unser Mutterbild hingegen immer noch Resonanzen zur Nazi-Mutter hat, ist schlimm und keineswegs ein alter Zopf. Ministerin Schröder reflektiert ihre ideologische Formatierung genauso wenig wie all jene, die zwar mehr Kinder für Deutschland wollen, aber weiter auf die deutsche Mutter im Haus und den deutschen Vater in der Arbeit setzen.

Nur ein Viertel der Kinder sind in der Frühbetreuung, der Rest robbt meist ohne Geschwister über den Teppich der mütterlichen Stube. Ein Teppich voller ideologischer Flausen übrigens, über den sich Frauen, die in der DDR aufgewachsen sind, meist nur wundern können, aber bleiben wir bei der Sache: Kitaplätze fehlen, und bevor Frau Schröder diesen Mangel nicht behoben hat, kann der alte Zopf nicht ab, solange verfilzt der Teppich weiter. Doch für Herrn Schröder war Familienpolitik Gedöns, Frau Schröder ist die Personifizierung dieses Gedöns, und das Problem liegt tiefer.

Sei es in der Sexismus-Frage, der Familienpolitik oder der Lohngerechtigkeit – wir brauchen zuerst ein Geschlechterverständnis, das nicht mehr auf biologistischen Annahmen beruht. Kein Stier/Ochsen/Kuh-Gefasel mehr!

Gegen solche Naturalisierungen helfen Historisierungen. Sie zeigen, dass Irrwege nicht naturgebunden und unveränderlich, sondern kulturbedingt und veränderbar sind. Wir müssen also den Wirklichkeitsraum erfassen (und der sieht heute so aus: Kleinfamilie und Ehe sind nur zwei mögliche Modelle von vielen und keine Leitbilder mehr); dann müssen wir den Möglichkeitsraum (Wie wollen wir leben?) durch historische Dekonstruktion des heutigen Zustands öffnen, und das Ganze popularisieren. (Wie erklär ich‘s den Brüderles und Schwesterles?)

 Öffnen wir also, indem wir das biologische Wesen der Geschlechter durch ihre historische Konstruktion ersetzen: Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun hat den Ursprung der Geschlechterdifferenz mit der Entstehung der Schrift verbunden. In den Grundzügen besagt ihre These, dass der Abstraktionsprozess, der durch die Schriftlichkeit in Gang gesetzt worden ist, beide Geschlechter gleichermaßen auf ihre Rollen festgelegt hat: Der Mann mit seiner unsichtbaren Zeugungsfähigkeit wurde mehr und mehr der Schrift, dem Geist und der Wahrheit zugeordnet und aufgewertet, während die Frau mit ihrer sichtbaren Gebärfähigkeit dem Prinzip des Lebens, dem Körper und der Natur verbunden und abgewertet wurde. Daraus resultierte dann das Denken in Gegensätzen und Widersprüchen, das unser Verständnis heute noch prägt.

Die These ist sogar noch komplizierter, als sie hier klingt, aber es geht mir um etwas Simples: Frauen- und Männerrollen  haben sich historisch-kulturell entwickelt und wurden nachträglich naturalisiert. Es liegt also an beiden Geschlechtern die Festschreibungen zurückzuweisen und auf die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Ordnung zu setzen, die auf Differenzen statt Gegensätzen beruht, und in denen Männer und Frauen gleichermaßen und in allen möglichen Rollen repräsentiert sind. Dass Frauen und Männer, Hetero- und Homosexuelle, Alleinerziehende und Paare, Verheiratete und Unverheiratete gleich gut leben wollen, obwohl sie anders sind, ist kein Widerspruch, sondern normal. Dass die Politik ihnen auch die gleichen Möglichkeiten einräumen sollte, wäre normal, ist es aber nicht. Und wem das jetzt alles zu kompliziert ist, der zieht eben nach Schweden.

—08.02.2013

MAKE LOVE NOT PEACE

marcus steinweg

Diese vier Wörter und das Ausrufezeichen stehen in einem Quadrat auf der Rückseite des Merve-Buchs, das ich gerade zugeklappt habe, und das neben Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe das Beste ist, das je über die Liebe geschrieben wurde.

Nachdem mir Eva Illouz mit ihrer These der Ökonomisierung der Gefühle zwar die Wahrnehmung für den Konsum der Romantik geschärft hat, konnte ich doch nie daran glauben, dass die Liebe darin aufgeht. Und jetzt weiß ich auch warum: „Weder das romantische Narrativ noch seine Entzauberung in der postromantischen Sequenz einer sich als Phantasma identifizierenden Liebe treffen ihren aporetischen Kern, der sie als gelebte Differenz ausweist.“

In Steinwegs Text findet sich ein weltaufschließender Satz nach dem anderen:

„Intensität ist, was sich nicht widerstandslos kanalisieren lässt. Wille zur Intensität ist Schablone und romantischer Kitsch.“ oder:

„Ich liebe, weil ich liebe; weitere Gründe brauche ich nicht. Es gibt keinen Grund, die Liebe Gründen zu unterwerfen. Ihre Kraft liegt in der Weigerung, sich zu plausibilisieren.“oder:

„Der Schwärmer liebt, um nicht zu lieben. Er liebt, wenn man dies Liebe nennen kann, sich selbst als Opfer seiner Passion. Er ist das autoerotische Subjekt schlechthin. Nichts kann ihn mehr entzücken als die Intensität seines Erlebens.“

Das Buch lag übrigens schon ein Jahr auf meinem Bücherstapel, nachdem Freunde Marcus Steinweg im Roten Salon gesehen hatten und meinten, bei dem funke es nur so. Jetzt lese ich seine Texte zur Kunst und dann Alain Badiou, den er andauernd zitiert und der mir bisher auch noch entgangen ist. Die Frage ist nur, wann man selbst noch schreiben soll, wenn man andauernd lesen will.

—30.01.2013

Jetzt aber echt

Ja, Herbert ist mein bester Freund, ABER falls ich Sie bisher noch nicht überzeugen konnte, „Herbert liest“ anzuschauen, dann bleibt Ihnen jetzt keine andere Wahl mehr, denn in der neuen Folge blitzt endlich das Talent auf, für das er bei seinen Freunden berühmt-berüchtigt ist. Folge 9 ist noch viel besser und amüsanter als die Folgen davor, weil Herbert endlich einen Hauch böse sein darf. Nach meinem Geschmack immer noch viel zu dosiert und gezügelt, aber ein bisschen blitzt sie schon durch, die Schärfe, für die ich ihn so verehre. Wenn Sie wüssten, wie gepfeffert das Ganze aussähe, wenn er dürfte, wie er wollte… Hier eine erste kleine Ahnung.

—21.01.2013